Biscotto ist jetzt seit 9 Wochen bei uns.
Er ist ein sehr ängstlicher Hund. Man kann schon von einem gewissen Trauma sprechen. Auch ein paar Narben lassen erahnen, dass ihm wohl schon einiges an unschönen Dingen widerfahren ist.
Die ersten Tage haben wir uns zuhause nur im Zeitlupentempo bewegt, da jede schnelle Bewegung und jedes Geräusch ihn zur Flucht animiert haben. Er konnte sich die ersten drei Tage auch gar nicht lösen, so dass er seine Ausscheidungen solange zurückgehalten hat, bis es gar nicht mehr ging und er sich dann im Haus an Ort und Stelle entleert hat. Offensichtlich hat er aber schon einmal in einem Haushalt gelebt, denn seine Reaktion darauf ließ erahnen, dass ihm das sehr unangenehm war.
Nach ein paar Tagen konnten wir dann das erste Mal Gassi gehen. Diese Gänge waren für ihn eine große Herausforderung und er war so gestresst, dass er sich auch hier nicht lösen konnte. Aber immerhin hat er dann sein Geschäft immer unmittelbar nach dem Spaziergang im Garten verrichtet und nicht mehr im Haus. An der Leine jedoch lief er vom ersten Mal an, als hätte er noch nie etwas anderes gemacht. Was natürlich auch mit seiner Angst zusammenhing. Er wollte sich gar nicht von seiner Bezugsperson entfernen. Wenn wir Menschen oder Hunden begegneten, dann hat er sich erstmal hinter uns versteckt und vorsichtig hervorgelugt. Manchmal jedoch kam er nach einer kurzen Weile auch hervor und hat andere Hunde ein wenig beschnuppert. Bis heute ist es aber immer noch so, dass er selten offen auf seine Artgenossen zugeht oder mit ihnen spielt. Bei diesen Spaziergängen konnte er gar nicht nah genug bei einem sein und hat sich geradezu an einen gedrückt. Waren wir dann wieder zuhause, blieb er lieber auf 2-3 Armlängen Abstand.
Manchmal ist das auch heute noch so. Manchmal kommt er auch zum Kuscheln und am nächsten Tag bleibt er wieder von einem weg. Was er sich aber trotz allem bewahrt hat, ist eine gewisse Neugier und Aufmerksamkeit. Auch wenn er erschrickt dreht er kurz darauf um und sieht nach, was los ist, aber natürlich immer fluchtbereit. Auch wenn Besuch kommt, zieht er sich nur kurz in den 1.Stock zurück, um dann gleich wieder herunter zu kommen und zu sehen, wer da ist. Sind mal viele Kinder im Garten, kommt er auch immer wieder aus dem Haus und beobachtet sie aus halbwegs sicherer Entfernung.
Im Haus haben wir schon zu Anfang einiges geschafft. Die Spülmaschine, die Wasserhähne, Toilettenspülung, Kaffeemühle, machten ihm schon nach kurzer Zeit keine Angst mehr. Die größte Überraschung war der Staubsauger, den fand er von Anfang an einfach nur interessant, trotz des lauten Geräusches. Dafür treibt ihn eine Fliege, die gegen die Fensterscheibe fliegt, sofort wieder in die Flucht. Die Geräusche von Jalousie und Wasserkocher sind immer noch ein wenig spooky für ihn. Und dann kam der Tag des Fernsehers! Der größte Horror für ihn. Er flüchtete vollkommen panisch und verließ den ersten Stock für einen Tag und eine Nacht nicht mehr, ohne zu fressen und zu trinken. Bis heute werden bei Betreten eines Raumes alle Decken und Wände mit Blicken abgesucht, ob sich da wieder gefährliche Bilder bewegen. Ihm das nahe zu bringen wird noch eine Aufgabe, die aber wegen wichtigerer Baustellen erstmal aufgeschoben ist. Selbst beim Fressen verlässt er nach jedem zweiten Bissen die offene Küche, um sich im Wohnzimmer zu vergewissern, dass keine Bilder an der Wand laufen. Dann kehrt er wieder für zwei Bissen an den Napf zurück, aber immer fluchtbereit.
Gassi gehen klappt inzwischen (fast) paradiesisch, auch ohne Leine. Nachdem er uns zu Beginn sogar eine Lederleine aus Panik durchgerissen und einmal die neue Leine aus der Hand gerissen hat, ist er doch nie mehr als ein paar Meter geflüchtet und immer auch zurückgekommen. Deshalb waren wir uns relativ sicher, dass es auch ohne Leine klappen müsste, und so war es auch. Er geht nie weit weg, bleibt meist bei einem und reagiert meist auf Pfiff (weniger auf Zuruf). Heute ist er manchmal auch selbstbewußt und geht voran, aber meist bleibt er hinter einem und zwar so nahe, dass er einem oftmals in die Hacken läuft.
Auch seiner Kondition hat der Aufenthalt im Lager nicht gut getan. Nach einer Stunde Spaziergang bewegt er sich nur noch im Zeitlupentempo und bei über 25 Grad schaltet er schon nach 15 Minuten auf Zeitlupe um.
Ihn zu trainieren ist ein bisschen schwer, da er bis heute nur selten Leckerli annimmt. Zu Beginn habe ich in meiner Verzweiflung sogar mal eine Scheibe Salami gezückt, aber auch das hat ihn kalt gelassen. Trotzdem haben wir schon ein paar Kommandos geschafft, da er natürlich, auch aufgrund seiner Angst, ein sehr aufmerksamer Hund ist.
Treffen wir beim Gassigehen auf andere Menschen und er läuft frei, dann versucht er diese in größerem Abstand zu umgehen. Wechselt man selbst dann die Richtung, fasst er sich meist ein Herz und saust so schnell er kann an ihnen vorbei. Ist es gar ein alter Mann mit Stock, kann es passieren, dass er ein Stück weiter flüchtet und dann an der nächsten sicheren Biegung auf einen wartet oder zurückkommt, wenn der Mann außer Sicht ist. Man kann sagen, dass das Vertrauensverhältnis zur ganzen Familie, im Vergleich zu den ersten Tagen und Wochen, schon sehr gewachsen ist. Nach 9 Wochen hat er mich heute sogar das erste Mal abgeschleckt.
Er ist mit Sicherheit schon in seinem neuen Zuhause angekommen und hat, gemessen an seinem Trauma, schon einiges an Zutrauen gefasst. Trotz alledem liegt noch ein ganzes Stück Weg vor uns. Und mit einer derartigen Angst hatte auch niemand gerechnet. Wir hoffen, dass er im Herbst soweit ist, dass wir mit ihm zur Hundeschule gehen können. Da er sehr nasengesteuert ist, wäre es auch schön, eines Tages Mantrailing mit ihm zu versuchen.